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„Geschichte der Krankenpflege wurde bisher wenig aufgearbeitet“

30. August 2018

Prof. Dr. Karen Nolte ist neue Direktorin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg

Wie sah in den vergangenen beiden Jahrhunderten der Pflegealltag aus und mit welchem Selbstverständnis engagierten sich die damaligen Krankenschwestern? Wie entwickelte sich in dieser Zeit das Verhältnis zwischen Arzt, Pflegenden und Patient? Wie war der Umgang mit Sterbenden, wie entwickelte sich der Palliativgedanke? Das sind einige der Fragen, mit denen sich Prof. Dr. Karen Nolte, neue Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Heidelberg, im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt. Sie trat im Februar 2018 die Nachfolge von Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart an, der das Institut 25 Jahre lang leitete. Ein Schwerpunkt der bisher in Würzburg tätigen Medizinhistorikerin, selbst gelernte Krankenschwester, ist die Geschichte der Krankenpflege: „Besonders zur alltäglichen Pflegepraxis im 19. bis ins 20. Jahrhundert gibt es wenige konkrete Aufzeichnungen. In einer Zeit, in der sich die Pflege – wieder – emanzipiert und professionalisiert, ist die Geschichte der Krankenpflege ein sehr interessantes und wichtiges Forschungsgebiet, das insgesamt noch kaum systematisch aufgearbeitet ist.“ Auch organisatorisch stellen sich der neuen Lehrstuhlinhaberin einige Herausforderungen: Es gilt die Lehrangebote des Instituts umzustellen und in den Heidelberger Reformstudiengang HeiCuMed einzugliedern.

Forschung zum Selbstverständnis der Pflege

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lag die Krankenpflege überwiegend in den Händen kirchlicher Schwesternschaften wie die der evangelischen Diakonissen. Diese waren sehr gut ausgebildet, um notfalls auch ärztliche Tätigkeiten ausüben zu können. Nicht die Ärzte, sondern das Vorsteherpaar ihrer Mutterhäuser stellten die zentralen Autoritäten für die Diakonissen dar. „Das muss bisweilen ein sehr schwieriges Verhältnis zwischen Schwestern und Ärzten gewesen sein. Darauf lassen Vorschriften schließen, in denen die Rolle des Arztes als Autorität in der Krankenversorgung offensichtlich explizit verankert werden musste“, so Nolte, die seit 2014 dem Vorstand der Fachgesellschaft Pflegegeschichte e.V. angehört. „Das Selbstverständnis der Pflege als ärztlicher Hilfsberuf stammt daher nicht, wie häufig angenommen, aus der konfessionellen Krankenpflege, sondern von weltlichen Schwesternschaften sowie aus den von Ärzten eingerichteten Pflegeschulen, die bereits ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Universitätskliniken eingerichtet wurden.“ Details zum Pflegealltag und dem Arbeitsverhältnis zwischen Ärzten und Pflegenden sucht und findet die Historikerin in der Regel in persönlicher Korrespondenz wie der von Agnes Karll, die 1903 die „Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands“ ins Leben rief, und anderen Selbstzeugnissen. In den Patientenakten sind Dokumente aus der Feder Pflegender selten zu finden, lediglich Fieberkurven, Gewichtstabellen und Überwachungsprotokolle bei Patienten, die intensiv beobachtet werden mussten, sind darin überliefert.

Psychiatrie als weiterer Forschungsschwerpunkt: Wie begegnete man Schizophrenie und „Hysterie“?

Überwachungsprotokolle gab es vor allem im Bereich der Psychiatrie, einem weiteren Forschungsschwerpunkt Noltes. „Krankenpflegende hatten zum Beispiel bei der in den 1930er Jahren eingeführten Insulin-Koma-Therapie, die schizophrene Patienten in ein künstliches diabetisches Koma versetzte, die Aufgabe, die Patienten intensiv zu überwachen, sowohl ihre „Schockzustände“ und Vitalzeichen als auch ihr Verhalten genau zu beobachten und dokumentieren. Doch auch aus ärztlichen Berichten lassen sich Pflegepraktiken ableiten, da diese wesentlich auf den Beobachtungen von Pflegenden basierte.“ In diesem Bereich der Psychiatrie interessiert die Medizinhistorikerin neben der Alltags- auch die Geschlechtergeschichte: Wie begegnete man der Schizophrenie oder der „Hysterie“, einer Modediagnose Anfang des 20. Jahrhunderts, im Umgang mit den Patienten? Welche Unterschiede gab es zwischen Männern und Frauen, wie äußerten diese sich in Diagnose und Therapie?

Bereits seit der Vorbereitung auf ihre Habilitation beschäftigt sich Karen Nolte zudem mit der Geschichte der medizinischen Ethik, insbesondere dem Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden sowie der Sterbebegleitung. Zu diesem Themenkomplex veröffentlichte sie 2016 ihr Buch „Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion“. An der neuen Wirkungsstätte möchte sie ihre verschiedenen Schwerpunktthemen auch interdisziplinär in den Blick nehmen und Kooperationen z.B. mit Vertretern der geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufbauen: „Ich freue mich besonders auf die Zusammenarbeit mit Martina Hasseler, der neu berufenen Professorin für Pflege- und Therapiewissenschaft an der Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung. Hier finden sich bestimmt einige interessante Berührungspunkte.“

 

Zur Person: Prof. Dr. Karen Nolte

Karen Nolte studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Kulturanthropologie/ Europäische Ethnologie und Soziologie an der Universität Göttingen, arbeitete parallel acht Jahre lang als examinierte Krankenschwester in einer Göttinger Klinik. Ab 2000 widmete sie sich im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Kassel dann Vollzeit der Wissenschaft und stieg mit ihrem Dissertationsthema „Hysterie während des ’nervösen Zeitalters’ im Verhältnis von Arzt und Patientin“ in die Medizingeschichte ein. Für ein von der Fritz Thyssen Stiftung gefördertes Forschungsprojekt wechselte Nolte später ans Institut für Geschichte der Medizin der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, wo sie sich 2010 zum Thema „Wege zu einer Alltagsgeschichte der Ethik. Vom Umgang mit Schwerkranken (1800-1900)“ habilitierte und als Akademische Rätin tätig war. In Würzburg engagierte sie sich zudem als Mitglied der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät sowie Kustodin der „Medizinhistorischen Sammlungen“ des Instituts. Sie ist Mitherausgeberin des European Journal for Nursing History and Ethics (ENHE) sowie der NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin und unter anderem im Vorstand der Fachgesellschaft Pflegegeschichte e.V. und in der European Association for the History of Nursing (EAHN) aktiv.

 

Beruflicher Werdegang

Seit 1.2.2018: Professorin und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

2007-2018: Akademische Rätin am Institut für Geschichte der Medizin der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

2012-2018: Kustodin der »Medizinhistorische Sammlungen« am Institut für Geschichte der Medizin, Würzburg

2015-2018: Sammlungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

2014-2018: Mitglied der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

2010: Habilitation, Fachgebiet: »Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin« an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Titel der Arbeit: »Wege zu einer Alltagsgeschichte der Ethik. Vom Umgang mit Schwerkranken (1800-1900)«

2004-2007: Wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Forschungsprojekt: »Wege zu einer Alltagsgeschichte der Ethik. Vom Umgang mit Schwerkranken (1500-1900)« (Fritz Thyssen Stiftung) am Institut für Geschichte der Medizin Würzburg (Leitung: Prof. Dr. Dr. Michael Stolberg)

2003-2004: Postdoc- Stipendiatin in dem DFG-geförderten Graduiertenkolleg: »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung« der Universität Kassel und der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

2003: Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Geschichte und Ethik der Medizin, Fachbereich Humanmedizin der Georg-August-Universität Göttingen (Leitung: Prof. Dr. Claudia Wiesemann)

2000-2002: Stipendiatin in dem DFG-geförderten Graduiertenkolleg: »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung« der Universität Kassel und der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

2002: Promotion an der Universität Kassel: »Aneignungsprozesse und Erfahrungen von Hysterie während des ›nervösen Zeitalters‹ im Verhältnis von Arzt und Patientin (1876-1918)« (Note: »mit Auszeichnung«, entspricht einem »summa cum laude«)

1997: Magister Artium in Mittlerer und Neuerer Geschichte, Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie und Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen

1990: Examen in der Krankenpflege für Erwachsene am Allgemeinen Krankenhaus in Celle

 

Forschungsschwerpunkte

  • Geschichte der Psychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert
  • Geschlechter- und Körpergeschichte der Medizin im 19. und 20. Jahrhundert
  • Geschichte der medizinischen Ethik im 19. Jahrhundert
  • Geschichte der Pflege im 19. und 20. Jahrhundert
  • Geschichte von „material cultures“ in der Medizin und Pflege im 19. und 20. Jahrhundert

 

Mitherausgeberin der Zeitschriften

  • European Journal for Nursing History and Ethics (ENHE)
  • NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften

 

Funktionen in Fachgesellschaften

2010-2016  

Mitglied im Vorstand des Fachverbands Medizingeschichte e.V. (Schriftführerin und Schatzmeisterin)

seit 2014    

Mitglied im Vorstand der Fachgesellschaft Pflegegeschichte e.V. (stellvertretender Vorsitz)

seit 2011

European Association for the History of Nursing (EAHN)(Communication Officer)

 

 

 

 

 

 

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