von Professor Dr. Joachim Kirsch, Geschäftsführender Direktor Institut für Anatomie und Zellbiologie
Ende des letzten Jahres forderten die beiden Chirurgen Calvin Coffey und Peter O’Leary im Fachblatt „Lancet Gastroenterology and Hepatology“, das Gekröse oder Mesenterium – die Gewebestruktur, mit der der Darm im Bauchraum befestigt ist – als eigenes Organ zu definieren. Seitdem gehört diese Veröffentlichung zu den am häufigsten gelesenen Artikeln dieser Zeitschrift. Als wichtiges Argument für die „Organ-These“ wird angeführt, dass es sich bei dem Mesenterium um eine einheitliche Struktur handele, obwohl sie beim Erwachsenen in mehrere anatomisch unterscheidbare Abschnitte unterteilt wird. Darüber hinaus spiele das Mesenterium eine wichtige Rolle bei Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes. Warum diese Aufregung und was ist das Mesenterium eigentlich?
Nicht jeder hat eine Vorstellung von der Aufhängung, an der der Darm in der Bauchhöhle befestigt ist. Die unterhalb sichtbare Abbildung aus dem Anatomiebuch des Heidelberger Anatomen Friedrich Tiedemann und dem Illustrator Jacob Roux von 1822 illustriert einen besonders prominenten Teil des Mesenteriums, nämlich den, der von der oberen Eingeweidearterie und deren Ästen durchzogen wird. Ebenso gut sichtbar sind die von diesem Blutgefäß versorgten Darmabschnitte, Dünndarm und etwa zwei Drittel des Dickdarms. Nicht dargestellt sind der venöse Abfluss, die Lymphbahnen und Nerven, die ebenfalls im Mesenterium ihren Weg zu oder von den verschiedenen Darmabschnitten nehmen. Aber auch diese Befunde waren bereits zu Tiedemanns Zeiten nicht neu. Also nicht nur „Darmhalterung“, sondern auch „Autobahn“ von und zum Darm.
„Da unser Wissen um das einheitliche Mesenterium etwa 100 Jahre alt ist, war es offenbar Zeit für eine sensationelle Neuentdeckung.“
Für den Arzt ist das Mesenterium eine dünne Gewebeplatte, die beidseitig von Bauchfell überzogen ist. Sie ragt von hinten in die Bauchhöhle hinein und führt die Leitungsbahnen (Blut- und Lymphgefäße, Nerven) zu den entsprechenden Darmabschnitten. Diese Leitungsbahnen sind eingebettet in lockeres Bindegewebe, bei manchem von uns auch in (leider) allzu reichlich Fettgewebe. Es entwickelt sich als durchgehende Struktur an der Hinterwand der Bauchhöhle, da der embryonale Darm von hinten in die Bauchhöhle hineinwächst. Die oberen Darmabschnitte bis hinunter zur Leber haben außerdem noch ein vorderes Mesenterium, von dem beim Erwachsenen allerdings nur noch Rudimente sichtbar sind. Im Laufe der vorgeburtlichen Entwicklung kommt es dann zu recht komplizierten Umlagerungen und Verschmelzungen, weshalb das Mesenterium beim Erwachsenen einen uneinheitlichen Eindruck macht. Da unser Wissen um das einheitliche Mesenterium etwa 100 Jahre alt ist, war es offenbar Zeit für eine sensationelle Neuentdeckung.
Warum sollte das Mesenterium nun ein Organ sein oder auch nicht? Das Wort „Organ“ leitet sich aus dem griechischen Wort für „Werkzeug“ ab. In der Medizin bezeichnet es einen klar von seiner Umgebung abgrenzbaren Teil des Körpers, der spezifische Funktionen erfüllen kann – das Herz pumpt Blut in den Körper, die Lunge dient dem Gasaustausch etc.. Um das Mesenterium als Organ anzusehen, müsste man ihm spezifische Funktionen jenseits von Darmaufhängung und „Autobahn“ zuweisen können. Genau dies blieben uns die beiden Forscher aber schuldig. Möglicherweise geht es ihnen tatsächlich darum, eine Plattform zu schaffen, von der aus die Erforschung der Rolle des Mesenteriums bei Erkrankungen gesteuert werden kann. Marketing? Vielleicht, aber muss man hierzu gleich ein neues „Organ“ erschaffen, wenn auch nur auf Papier?
Autor: Professor Dr. Joachim Kirsch

Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, P 1359 Gross RES SK, Tafel 23a Tiedemann, Friedrich (Arzt; Physiologe); Roux, Jacob Wilhelm Christian (Radierer; Maler; Zeichner); Karlsruhe / Heidelberg, 1822