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Hi Alex, wie geht es dir eigentlich?

2. Februar 2016

Die Krankenschwester Alexandra Kahlenbach arbeitet seit September 2015 vor Madagaskar auf dem Krankenhausschiff ‚Africa Mercy‘. In unserem Interview berichtet sie von ihren Erlebnissen

Im September 2015 begann für Alexandra Kahlenbach, bis Juli 2015 Kinderkrankenschwester auf der kinderchirurgischen Station ‚Mullewapp‘ am Universitätsklinikum Heidelberg, das wahrscheinlich größte Abenteuer ihres Lebens. Seitdem arbeitet die 29-Jährige für die christliche Hilfsorganisation ‚Mercy Ships‘ vor Madagaskar auf einem Krankenhausschiff. Auf der ‚Africa Mercy‘ behandelt sie ehrenamtlich Menschen, die sich einen Arztbesuch nicht leisten können oder die keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung haben. Auf dem Schiff gibt es fünf Operationssäle, einen Aufwachraum, eine Intensivstation sowie vier allgemeine Stationen mit insgesamt 82 Betten. 400 Freiwillige aus rund 35 Nationen sind im Einsatz. Wir haben mit Alex ein Interview geführt: Von Heidelberg nach Madagaskar und wieder zurück.

Auf welcher Station bist du aktuell eingesetzt?

Ich arbeite auf der Station A, deren Fokus auf plastikchirurgischen und orthopädischen Eingriffen liegt. Hierbei geht es in erster Linie um die Funktionswiederherstellung von Körperteilen, z.B. bei Verbrennungskontrakturen oder Fußfehlstellungen. Unsere Station hat 20 Betten. Eine Wand trennt den Raum in zwei Hälften, auf jeder Seite befinden sich zehn Patientenplätze. Wir sind so ziemlich immer voll belegt. Einen Schwesternstützpunkt gibt es nicht, unser Computer befindet sich in dem Verbindungsteil zwischen den beiden Raumhälften.

Wie wichtig ist Teamwork für eure Arbeit?

Ohne Teamwork geht hier nichts. Alles läuft Hand in Hand. Das Team besteht aus 20 Krankenschwestern aus fünf Nationen sowie zehn ‚Day-Crew-Arbeitern‘. Das sind Madagassen, die unsere Arbeit bei so ziemlich allem unterstützen. Ob Übersetzen, Betten machen, Essen verteilen oder die Hand eines Patienten halten, wenn er Beistand benötigt – unsere Day Crew ist einfach super. Außerdem gibt es noch die Charge Nurse, so etwas wie eine Oberschwester. Das Konzept der Charge Nurse ist in den USA üblich. Sie koordiniert, kennt alle Patienten, macht die Visite und ist Ansprechpartner für so ziemlich alles. Verändert sich z.B. der Zustand eines Patienten, wird sie von der zuständigen Schwester sofort informiert und entscheidet, was zu tun ist.

Was denkst du über das Konzept der Charge Nurse?

Anfangs war ich etwas skeptisch, ich bin es halt gewohnt, sehr eigenverantwortlich zu arbeiten. Mittlerweile aber muss ich zugeben, dass das Konzept echt gut funktioniert. Die Qualität der Pflege bleibt hierdurch konstant, und Fehler werden nochmals minimiert. Um letzteres zu gewährleisten werden hier auch sämtliche Medikamente doppelt gecheckt, also immer auch von einer zweiten Schwester. Auf unserem kleinen Raum ist das aber auch gut möglich; da ist immer jemand verfügbar.

Was war das Schönste, was du bei deiner Arbeit auf der ‚Africa Mercy‘ erlebt hast?

Die meisten meiner Patienten leiden an Fehl- oder Missbildungen, egal ob angeboren oder erworben. Das Schönste an meiner Arbeit sind die Veränderungen, die ich an meinen Patienten beobachte – und das geht weit über die körperliche Funktionsfähigkeit hinaus. Natürlich ist es wichtig, dass Menschen durch die Operationen ihre Fähigkeiten zurück erlangen und so wieder am Alltag teilnehmen können. Doch das, was wirklich unter die Haut geht, ist die Veränderung, die in unseren Patienten geschieht. Viele dieser Menschen betreten unsere Station sehr verängstigt, meiden jeden Augenkontakt. Sie haben für lange Zeit als Ausgestoßene der Gesellschaft gelebt, in völliger Isolation. Sie sind es gewohnt, verspottet zu werden. Was sie auf der ‚Africa Mercy‘ erleben, ist eine völlig neue Erfahrung. Sie erleben völlige Hingabe, Aufmerksamkeit und Liebe. Sie beginnen, sich zu öffnen, Vertrauen aufzubauen, eine Gemeinschaft mit Mitpatienten zu bilden, sie lachen, und freuen sich wieder am Leben.

 

„Was unsere Patienten auf der ‚Africa Mercy‘ erleben, ist eine völlig neue Erfahrung. Sie erleben völlige Hingabe, Aufmerksamkeit und Liebe.“

 

Und was war das schlimmste Erlebnis?

Die Momente, wenn du jemandem mitteilen musst, dass wir nicht helfen können. Da wir nur auf gewisse Fachgebiete spezialisiert sind, können wir nur bestimmte Erkrankungen (v.a. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Gesichtstumore; Verbrennungskontrakturen; Vaginalfisteln) behandeln. Somit können wir nicht allen Menschen helfen. Während man als Patient in Deutschland zu einer anderen Klinik verwiesen wird, bedeutet ein ‚Nein‘ hier in sehr vielen Fällen das Todesurteil. Vor kurzem, beim Besuch eines lokalen Krankenhaus, wurde ich von Eltern eines erst wenigen Wochen alten, herzkranken Kindes angefleht, ich solle ihnen eine Operation auf der ‚Africa Mercy‘ ermöglichen. In die Augen der Eltern zu schauen und ihnen den letzten Schimmer an Hoffnung mit einem einfachen Satz zu nehmen ‚Nein. Wir können nicht helfen. Es tut mir leid` ist alles andere als leicht.

Worin unterscheidet sich die Pflege, die du aus Deutschland kennst, von der Pflege auf der ‚Africa Mercy`?

Meine Kollegen und ich gehen mit genauso viel Präzision und Professionalität an die Arbeit, wie wir es in unseren Heimatländern auch tun würden. Wir haben moderne Standards, ein Labor, ein Röntgen, sogar ein CT. Auf Station arbeiten wir nach einem festen Leitfaden, der eine gleichbleibende Qualität in der Pflege ermöglicht. Für jede Schicht und jeden Patienten gibt es somit eine krankheitsspezifische Checkliste, die abgearbeitet wird. Viele Dinge sind aber anders, sei es aufgrund von Kultur, Organisation oder Räumlichkeiten. Sehr oft ist Improvisation gefragt, z.B. wenn uns ein bestimmter Artikel ausgegangen ist. Produkte, die in Deutschland nur zum Einmalgebrauch zugelassen sind, müssen hier unter Umständen mehrfach verwendet werden. Infusionsleitungen sind kostbar, werden hier am Patientenbett aufbewahrt und bei der nächsten Infusion wieder benutzt, und auch Nahrungsbeutel für Sondenkost sind hier mehrere Tage in Folge im Einsatz. Laboruntersuchungen sind teuer und werden auf das Nötigste reduziert. Die Begleitperson des Patienten schläft auf einer Matratze unter dem Bett und führt jeden Morgen die Grundpflege durch. Ich könnte noch unzählige Beispiele aufzählen.

Welche landestypischen Besonderheiten gibt es?

Das Entfernen von Sandflöhen in den Fußsohlen der Patienten ist üblich und beim Auftreten eines Fiebers wird zuallererst immer an Malaria gedacht. Daran, dass auf den Stationen sehr viel gesungen, getrommelt und getanzt wird, habe ich mich auch schnell gewöhnt. Unter den Patienten und ihren Angehörigen entsteht auf Station immer schnell ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Es wird miteinander gespielt, man ermutigt sich gegenseitig und passt auf sich auf. Dinge, die für uns selbstverständlich sind, müssen hier zunächst einmal erklärt werden – und das auf einfachste Art und Weise. Schilder in unseren Bädern zeigen, dass man sich nicht auf die WC-Brille zu stellen hat und das Toilettenpapier IN die Toilette gehört und nicht auf den Boden. Vor einigen Wochen musste ich die pilzbefallene Kopfhaut eines Mädchens behandeln. Sie hat geschrien vor Angst, als ich ihre Haare mit dem Duschkopf waschen musste. Sie hatte noch nie zuvor eine Dusche gesehen.

 

„Daran, dass auf den Stationen sehr viel gesungen, getrommelt und getanzt wird, habe ich mich schnell gewöhnt.“

 

Gibt es besondere Krankheitsbilder, mit denen du zu tun hast?

Die Krankheiten, denen ich hier begegne, haben ein Ausmaß, das ich selbst in Lehrbüchern nie gesehen habe. Beeindruckend sind vor allem die Patienten der Gesichtschirurgie: ganze Gesichtshälften, die durch Noma weggefressen wurden, Verätzungen, oder aber unbeschreiblich große Kiefertumore, die ganze Gesichter entstellen.

Was ist Noma?

Noma befällt in der Regel Kinder in Entwicklungsländern, bei denen das Immunsystem durch Unterernährung, Vorerkrankungen wie z.B. Masern oder Meningitis und mangelnde Hygiene bereits geschwächt ist. Vorstufe der zu 70 bis 90 Prozent tödlichen Erkrankung ist eine Entzündung des Zahnfleisches. Ausgelöst wird die Krankheit durch Bakterien wie Borrelien, Pseudomonaden und Enterokokken. Die Keime führen schließlich zur Zerstörung von Mundschleimhaut, Gesicht und Knochen. Die Folgen von Noma können verheerend sein: Wer überlebt, behält meist Verstümmelungen durch Narben zurück. Dies führt oftmals zu sozialer Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft, zur Verstoßung und Verwaisung der Kinder, die häufig auch vom Spiel mit anderen Kindern ausgeschlossen sind. Kinder mit Noma werden von ihren Müttern und sonstigen Angehörigen aus Angst vor Diskriminierung ‚versteckt‘.

An welche skurrilen Situationen kannst du dich erinnern?

Vor einigen Wochen habe ich einer Dame im Nachtdienst Paracetamolsaft gereicht, in einer Spritze aufgezogen. Fragend schaute sie mich an, begann dann aber die Spritze wie einen Lippenstift über ihre Lippen zu fahren. Als sie nach mehrfachen Erklärungsversuchen dann verstanden hatte, dass sie das Medikament oral zu sich zu nehmen hat, musste auch sie über sich selbst lachen. Einer Kollegin ist im Nachtdienst eine Patientin aus dem Bett gefallen, die sich danach vehement dagegen geweigert hat, zurück ins Bett zu steigen. Der Grund? Das Bett sei verflucht und habe sie ja schließlich mit Absicht herausgeworfen. Es sind diese Geschichten, die auf der einen Seite so traurig sind – viele unserer Patienten haben noch nie zuvor in einem Bett geschlafen – uns aber immer wieder zum Lachen bringen.

Du bist jetzt seit knapp fünf Monaten auf dem Schiff. Kannst du bereits ein erstes Zwischenfazit ziehen?

Es ist ganz gleich, auf welchem Kontinent ich mich befinde, für welches Unternehmen ich tätig bin – ob für Mercy Ships oder das Universitätsklinikum Heidelberg – oder in welchem Bereich ich arbeite. Jeden Tag habe ich die Chance, meine Arbeit mit Liebe auszuführen. Für meine Mitmenschen. Jeden Tag habe ich die Möglichkeit, mit meinem Beitrag einen Unterschied zu machen. Und somit Stück für Stück die Welt zu verändern.

Info:
Alexandra Kahlenbach bezahlt wie alle anderen ehrenamtlichen Helfer auf der ‚Africa Mercy‘ den kompletten Aufenthalt mitsamt Flug aus ihrer eigenen Tasche. Deshalb freut sich über jede finanzielle Unterstützung:
Mercy Ships Deutschland e.V.
Konto DE58 7345 0000 0000 5244 47
BIC: BYLADEM1KFB, Kreis- und Stadtsparkasse Kaufbeuren
Wichtig: Als Verwendungszweck muss „Alexandra Kahlenbach, Des. Code 4021“ angegeben

Alex berichtet auch regelmäßig in ihrem Blog über ihre Erlebnisse auf der ‚Africa Mercy‘

Alle Fotos auf dieser Seite: Katie Keegan / Mercy Ships – Vielen Dank!

Autor: Christian Fick

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